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Die "Mundwerkzeuge" der Ceratiten des Oberen Muschelkalkes
- Analyse der "Kronacher Ceratitenplatte" -

SIEGFRIED REIN, Erfurt-Rhoda
Veröffentlichungen des Naturhistorischen Museums, 18: 17-26, 21 Abb., Schleusingen 2003

Als Dank für die großzügige Überlassung des wertvollen Sammlungsgutes widme ich diese Publikation postum dem inzwischen leider verstorbenen Herrn Dr. Friedrich Martin und seinem Bruder Herrn Hans Martin

Stichworte: Trias, Oberer Muschelkalk, Ceratites, Konservatlagerstätten, Massensterben, Kieferapparate, Mundwerkzeuge, Populationsstatistik, Populationsgröße, Nahrungskette

Inhalt

Zusammenfassung
Summary
1. Einleitung
2. Stratigraphie
3. Morphologie der "Mundwerkzeuge"
4. Populationsstatistik mit "Mundwerkzeugen"
5. Diskussion der Erkenntnisse und Schlussfolgerungen
Dank
Literatur

Zusammenfassung

Die Besonderheit der Kronacher Ceratiten-Platte beruht auf der gemeinsamen Konservierung von 44 adulten Ceratiten-Gehäusen mit mehr als 800 kohligen zungenähnlichen Strukturen unterschiedlichster Größe. Ihre von LEHMANN (1988) als "Kiefer" der Ceratiten gedeutete Zugehörigkeit erscheint durch in-situ Belege gesichert. Die identische Morphologie der paarigen Bildungen schließt jedoch ein kiefertypisches gegeneinander Wirken aus. Deshalb wird bis zur Klärung ihrer Funktion für alle diesbezüglichen Strukturen der neutrale Begriff "Mundwerkzeuge" vorgeschlagen. Einen Qualitätssprung in der Ceratiten-Forschung bewirkt die statistische Analyse der Größenverteilung der "Mundwerkzeuge". Sie widerspiegelt erstmalig das quantitative Verhalten der Organismen aller Ontogenie-Stadien einer Population und ermöglicht folgende Deutungen:
Individuenreiche Ceratiten-Populationen lebten vagil-benthisch in einer für Invertebraten beispiellosen herdenähnlichen Generationen-Gemeinschaft. Die Aufnahme niedrig-energetischer Nahrung aus den Weichböden bedingte eine geringe Mobilität. Vor allem juvenile Ceratiten spielten als Beutetiere eine bedeutende Rolle am Anfang der Nahrungskette im Ökosystem Muschelkalkmeer.

Summary

She special feature of the Ceratites-plate from Kronach consists in the simultaneous occurrence of 44 adult Ceratites shells and more than 800 carbonaceous tongue-like structures of most variable size. The relationship with Ceratites, interpreted as "jaws" by Lehmann (1988), appears ensured by in-situ proof. However, the identical morphology of the paired shapes precludes a jaw-typical counteracting function. For this reason, until a definite elucidation of all such structures as to their function it is proposed to use the neutral term jaw apparatus.
A decisive step on Ceratites research is taken by the statistical analysis of the size distribution of the various jaw apparatus. For the first time it reflects the quantitative behaviour of organisms during all ontogenetic stages of a population and makes possible the following interpretations:
Ceratites populations rich in individuals had a vagile-benthic mode of life within a herdlike community of generations, unparalleled by other invertebrates. Taking on low-energy food from a soft ground required a low motility only. In particular juvenile Ceratites played an important role in the beginning of the food chain of the Muschelkalk sea.

1. Einleitung

Im Jahre 1969 kamen beim Fund eines Thanystropheus -Wirbels auf der Unterseite der Platte Teile eines Ceratiten-Pflasters zum Vorschein. Neben 44 Ceratiten-Steinkernen konnte im gleichen Fundniveau eine Vielzahl unscheinbarer, im lockeren ockerfarbigen Mergel eingebetteter Pflanzenhäcksel geborgen werden. Sie sind sorgfältig mit Lack stabilisiert und beschriftet. Der kilometerweite mühevolle Abtransport der Belegstücke durch die Gymnasiasten F. und H. Martin erfolgte mit einer Schubkarre aus dem Kalkbruch vom Kreuzberg bei Dörfles bis nach Kronach. Die akribische Sicherung des umfangreichen Fossilmaterials sollte sich erst später als spektakulärer Konservat-Lagerstätten-Fund herausstellen. Bei einer Sichtung der Sammlung des Bruderpaares Martin in Kronach wurde 1986 KEUPP auf kohlige Strukturen im Wohnkammer-Bereich der Ceratiten aufmerksam. Diese Bildungen interpretierte LEHMANN (1988) erstmalig als "Kiefer"-Apparate der Ceratiten und stellte sie morphologisch zum Aptychus-Typ. Die Klärung ihrer Funktion schätzte er jedoch als zu schwierig ein und vertagte sie mit der Hoffnung auf künftig besseres Beleg-Material. Wie langwierig derartige Vorgänge sein können wird am folgenden Beispiel deutlich. Eine bereits um 1890 vom Apoldaer Gymnasialdirektor COMPTER gefundene und von ihm mit "unbestimmbares Vorkommnis" bezeichnete Fossilplatte konnte erst mit den Abbildungen der Publikation von LEHMANN 100 Jahre später als Ceratiten"kiefer"- Platte identifiziert werden (REIN 1993; 1994). Zielstellung der Arbeiten war es, Morphologie und Funktion der neuen Strukturen zu beschreiben. Die Brüder Martin vermuteten jedoch einen weitaus größeren Informationsgehalt in ihrer Sammlung als aus den Publikationen hervorging.
Auf ihre Initiative hin überließen sie deshalb dem Verfasser das gesamte Material der Kronacher Konservat-Lagerstätte zu einer weiteren umfassenden Bearbeitung. Die Ergebnisse der vorliegenden Analyse bewirken einen Qualitätssprung in der Ceratiten-Forschung und bestätigen damit ihre Vermutung von der wissenschaftlichen Bedeutung dieses Fundes.




Abb. 1 Die "Kronacher Ceratitenplatte" ("KCP") - ein Sohlflächen-Pflaster aus dem Kalkbruch Fiedler vom Kreuzberg bei Kronach/Dörfles. Liegendes der Gänheim-Bank. Grenzbereich spinosus-Zone - enodis/posseckeri-Zone. Sammlung Martin Kronach (SMK).
Zum Bereich der Platte (155 x 90 cm) mit 21 postspinosen Ceratiten (C. penndorfi und C. postspinosus) gehören noch weitere 23 isoliert liegende Steinkerne und > 800 ursprünglich als Pflanzenhäcksel gedeutete Einzel"kiefer" von > 400 Ceratiten. Foto: F. Behr.



2. Stratigraphie

Lithostratigraphisch kann die "Kronacher Ceratitenplatte" durch die Gänheim-Bank und die Schellroda-Bank eingeregelt werden. Beide Leitbänke sind von Thüringen bis Baden-Württemberg ausgebildet (REIN & OCKERT 1999).
Biostratigraphisch befindet sich der Fundhorizont im Übergangsbereich der obersten spinosus -Zone zur enodis/posseckeri -Zone. In diesem Abschnitt kommt es zum Wechsel von den bis 27 cm großen postspinosen Ceratiten zu den nur 8 cm erreichenden Individuen der ersten Progenese-Phase im untersten Teil der enodis/posseckeri -Zone (REIN & OCKERT 1999). Dieser mit Anpassung an tiefgreifende ökologische Veränderungen durch Vorverlegung der Geschlechtsreife (Progenese) gedeutete Morphologiewandel (REIN 2001) wird erneut mit den Vorgängen im Kronacher Raum bestätigt (Abb. 3).










Abb. 2: Stratigraphischer Bereich des mo2 mit dem Fundhorizont der "Kronacher Ceratitenplatte". Kalkbruch Fiedler, Kreuzberg bei Kronach/Dörfles. Foto: Martin.





Abb. 3: Progenese Morphe, Ceratites "E"-Typ, DE = 78 mm, Kalkbruch Fiedler, Kreuzberg bei Kronach/Dörfles, "graue Folge" über Gänheim-Bank, SMK Nr. C199.





2.3 Morphologie der Mundwerkzeuge

Die germanischen Ceratiten gehören zu einer nachfahrenlos ausgestorbenen Tiergruppe. Kenntnisse ihrer uns deshalb völlig unbekannten biologischen Organisation erhält man im Muschelkalk nur über fossil erhaltene einstige Hartteile. Die Zuordnung einzelner isoliert gefundener anatomischer Reste des Ammoniten-Körpers ist deshalb schwierig (s. COMPTER 1922) und bleibt so lange hypothetisch bis sie durch eine Vielzahl von Belegen gesichert wird. Der Nachweis des "Kiefer"apparates durch in-situ Funde in der Wohnkammer der Ceratiten gehört zu dieser Problematik.






Abb. 4a: Liegende Seite eines C. postspinosus mit paarig in-situ liegenden Strukturen, DE = 166 mm (mit Faktor 1,1 berechnet), "KCP", SMK Nr. 50/40. Foto: F. Behr.





Abb. 4b: Die Teile der paarig gegenüber angeordneten Strukturen deutete LEHMANN (1988) als Innenlamelle und Außenlamelle der Oberkiefer von Ceratites. Als zusätzliche Bildung wird eine darunter liegende schwach inkohlte Lage sichtbar.




In-situ eingebettete Mundwerkzeuge der Ceratiten liegen im Wohnkammer-Bereich stets in einer feinkörnigen gelblich/ockerfarbigen Mergellage (s. Abb. 4-6). Sie wird als diagenetisches Endprodukt der Reste des einstigen Weichkörpers gedeutet. Voraussetzung für die Konservierung der ursprünglich wahrscheinlich conchagenen? Bildungen ist eine rasche Sediment-Schüttung über die auf der unteren Gehäuseseite noch haftenden Weichkörper-Reste. Die somit unvollständige Sediment-Verfüllung der Wohnkammer bewirkt, dass nach der diagenetischen Lösung der aragonitischen Ceratiten-Schale auf dem Steinkern lediglich eine mit gelblichem Mergel verfüllte Vertiefung entsteht. Die häufig kohligen Überreste darin sind deshalb ein Beleg für deren Verbleib als Bestandteile des Weichkörpers. Vor allem im hinteren Wohnkammer-Bereich in-situ eingebettete Ceratiten"kiefer" sind keine Seltenheit. Die Analyse einer 1500 Individuen zählenden C. spinosus - Population ergab, dass 8% der Gehäuse derartige Weichkörperreste besitzen (REIN 2003 in Vorb.). Sie belegen darüber hinaus ihre autochthone Einbettung.

Neben dem Nachweis einer paarigen Ausbildung mit identischen "Kiefer"-Strukturen ermöglicht die in-situ Erhaltung zusätzlich den Rückschluss auf das Größenverhältnis von "Kiefer" zur Gehäusegröße (Abb. 4). Dafür eignen sich auch die in der Regel plattgedrückten inkohlten Reste. In früheren Arbeiten (REIN 1993, 1994) wurde dafür vom Verfasser der Durchmesser des jeweiligen Steinkerns gemessen. Da faktisch die Wohnkammer nur in Ausnahmefällen vollständig mit 180° erhalten ist, führte das zu ungenauen Werten. Exaktere Ergebnisse der Endgröße erhält man durch Berechnung mit dem Zuwachs-Faktor (D1/D2) der logarithmischen Spirale. Daraus ergibt sich ein Verhältnis-Wert um 13%. Der Rückschluss auf die Gehäusegrößen wird damit auch dann ermöglicht, wenn lediglich isolierte "Kiefer"-Strukturen ohne zugehörenden Steinkern erhalten sind.
Alle bisher bekannten Belege in körperlicher Erhaltung stammen aus der Sammlung Martin und von der "Compter-Platte" des NHM Schleusingen (z.B. Abb. 5-8). Auffallend ist, dass derartig gut erhaltene dreidimensionale Strukturen ausschließlich von großen Individuen stammen. Es erweckt den Anschein, als ob mit der Individuengröße deren Stabilität zunimmt.

Rückschlüsse auf die etwaige stoffliche Zusammensetzung bleiben hochgradig hypothetisch. Kohlige Rückstände der Strukturen einerseits und die offensichtliche Resistenz gegenüber Säuren des Verdauungstraktes anderseits (s. Abb. 20), könnten auf eine Verbindung von Proteinen und Chitin in Conchagenen deuten. Zudem erhält man den Eindruck, als ob die kohligen Reste auf einer vorgeformten dünnen chitinigen Matrix liegen. Durch zusätzliche Einlagerung feinkristallinen Calcium-Carbonates wäre die variable Erhöhung der Widerstandsfähigkeit zu erklären.

Erscheint die Morphologie der paarigen Bildungen noch verhältnismäßig einfach (Abb. 4-9), so bleibt ihre Funktion nach wie vor rätselhaft. Die von LEHMANN (1988) mit Außenlamelle bezeichnete dünne Lage besitzt das Aussehen eines stark gewölbten Fingernagels und ist dorsal winklig in Form einer schmalen Leiste abgekantet (Abb. 8).
Sie liegt über der von ihm als Innenlamelle bezeichneten und in gleicher Weise gewölbten nach vorn spitz auslaufenden Bildung (Abb. 9a). Ventral befindet sich eine flach kastenförmige Vertiefung, in die mittig von der Spitze (Apex) wegzeigend eine schmale Wulst ragt (Abb. 6 und 9a) und gerade noch von der Außenlamelle verdeckt wird (Abb. 9b).
Lateral und dorsal sind beide Lamellen fest miteinander verwachsen, der ventrale Bereich bleibt jedoch wahrscheinlich spaltförmig nach vorn und hinten geöffnet.
Bei dorsaler Sicht erscheint optisch die Innenlamelle übergangslos mit der Außenlamelle verbunden. Von der hufeisenförmigen schmal abgekanteten Leiste (Abb. 8b) ist häufig nur der Abschnitt der dunkler gefärbten Innenlamelle sichtbar (Abb. 10). Obwohl es sich dabei wahrscheinlich um die konkav gewölbte Innenseite der "Oberkiefer" handelt, deutet sie LEHMANN aus dieser Perspektive als "Unterkiefer". Bei günstiger Erhaltung kann dorsal ein Rippelmuster sichtbar werden (Abb.11/12).

Wie im Schema der Abb. 4b bereits angedeutet, gibt es noch verschiedene weitere inkohlte Strukturen. Diese können einlagig schwach abgetreppt skulpturiert (Abb. 13) sein. Auch flach abgewinkelt ineinander verschachtelte Hohlformen (Abb. 14a/b) kommen vor. Als besonders interessant erweist sich die teilweise doppellagige Bildung in Abb.15a. Die Schema-Zeichnung 15b ist ein Versuch, durch Hochklappen des Mittelsteges eine dreidimensionale Ansicht zu erhalten.


     

Abb. 5: "Oberkiefer" in-situ im hinteren Wohnkammer-Bereich. Typisch für diese Erhaltung ist die scharf abgegrenzte Einbettung in lockeren ockergelblichen Mergel, ein Indiz für die Lage des Weichkörpers. "KCP", SMK Nr. I/6i. Breite 22 mm, berechnete Gehäuse-Größe ca. 170 mm.

Abb. 6: "Oberkiefer" in-situ im hinteren Wohnkammer-Bereich. Die Größe des in einer kompakten ockergelblichen Mergellage körperlich erhaltenen Bildung beträgt 35 mm. Damit errechnet sich eine Gehäuse-Größe von ca. 270 mm. Der stratigraphische Horizont entspricht der weyeri- bis dorsoplanus-Zone. Eine Besonderheit ist die freiliegende "Zungenspitze". Sie zeigt die morphologische Ausbildung der "Innenlamelle". Ahlstadt bei Coburg, SMK Nr. 136, Original LEHMANN (1988).

Abb. 7: Teil der 200 x 120 mm großen "Compter-Platte", Breite des Ausschnittes 78 mm. Die Größen der insgesamt 10 "zungenähnlichen" Bildungen bewegen sich zwischen 21 - 38 mm. Sie liegen zwar isoliert doch trotzdem noch paarweise nebeneinander. Die berechneten Endgrößen zwischen 160 -290 mm lassen auf Ceratiten der dorsoplanus-Zone schließen. Kleinromstedt bei Apolda, Original REIN 1993, NHMS Nr. VT 26.


  

Abb. 8a: Ventral-laterale Sicht eines isolierten mäßig plattgedrückten "Oberkiefers". Vom Apex (a) ausgehend wird lateral der Verwachsungs-Bereich (V) der Innenlamelle (I) mit der Außenlamelle (A) sichtbar. "KCP", SMK Nr. 50/37, Größe 20 mm.

Abb. 8b: Rücken-Ansicht der Struktur 8a. Der Übergang der Außenlamelle (A) zur Dorsalseite erfolgt durch kantiges Umklappen (L). Innen- und Außenlamelle erstrecken sich dorsal in Form einer ca. 5 mm schmalen Leiste (DL) nach vorn zur Spitze (Apex). Die Füllung der nach unten offenen Struktur mit ockergelben Mergel lässt auf die einstige Lage der Weichteile schließen.


                

Abb. 9a: Schema der getrennt in Ventral-Ansicht dargestellten Innenlamelle und Außenlamelle. Zeichnung: S. Brandt

Abb. 9b: Die Ventral-Ansicht im Verbund macht deutlich, wie weit die Außenlamelle die Innenlamelle überlappt. Zeichnung: S. Brandt.


     

Abb. 10: Original LEHMANN (1988). Lehmann mutmaßte eine Deutung als "Unterkiefer". Die konkav gewölbten Randbereiche der Strukturen und ihre paarige Lagerung lassen jedoch vermuten, dass es sich um die dorsale Seite der von ihm mit "Oberkiefer" bezeichneten Bildungen handelt. "KCP", SMK Nr. 50/1, Breite 83 mm.

Abb. 11: Ausschnitt von Abb. 17b. An konkav gewölbten Strukturen ist manchmal eine quer verlaufende Rippel-Bildung (Pfeile) zu erkennen. Sie kann auch in kohliger Erhaltung ausgebildet sein. "KCP", SMK Nr. 48, Größe 12 x 12 mm.

Abb. 12: Ausschnitt von Abb. 19. Besonders gute Erhaltung der dorsalen? Rippel. Künzelsau Garnberg, spinosus-Zone, Größe 6 x 7 mm, MHI ohne Nr.


     

Abb. 13: Weitere Formen: Kohlige Oberfläche seitlich wellig-terrassenförmig abgestuft. "KCP", SMK Nr. 5033, Größe 30 mm.

Abb. 14a: Weitere Formen: Ventrale Sicht auf zwei verschiedene flächig (Pfeilmarkierung) ineinander geschobene Strukturen (V) ähnlich der Außen- und Innenlamelle. "KCP", SMK Nr. 5031, Größe 28 mm.

Abb. 14b: Bei lateral-dorsaler Sicht der gleichen Bildung (14a) ist ähnlich Abb. 8b ein kantiger und geringfügig verdickter Überlappungs-Bereich (V) erkennbar. Die dorsale Leiste (DL) hat eine Breite von 7 mm. Trotz großer Ähnlichkeit mit den "Oberkiefer"-Strukturen handelt es sich um verschiedene Körper.


         

Abb. 15a: Weitere Formen: Die ungewöhnlichste Morphe ist eine mittig doppelklappige Bildung mit einer seitlich liegenden auffällig plastisch oval geformten Öffnung. Die kohligen Reste liegen auf einer geringmächtigen chitinigen Matrix. "KCP", SMK Nr. 5043, Größe 16 mm.

Abb. 15b: Rekonstruktionsversuch. Zeichnung: S. Brandt

4. Populationsstatistik mit "Mundwerkzeugen"

Beim Betrachten der dicht auf engstem Raum gepackten und durchweg flachgedrückten kohligen "Kiefer" in Pflasterform (Abb. 17/18/19) wird klar, dass mit dieser Erhaltung keine dreidimensionale Rekonstruktion möglich ist.
Dafür ergibt sich jedoch die einzigartige Chance mit dem Parameter-Wert 13% sowohl die Größe als auch die Anzahl der fossil nicht erhaltenen Gehäuse berechnen zu können. Warum die zu erwartenden Ergebnisse einem Qualitätssprung in der Ceratiten-Forschung entsprechen, kann am aktuellen Beispiel der Gehäusegrößenverteilung einer 1500 Individuen umfassenden C. spinosus -Population (REIN 2003 in Vorb.) erläutert werden. Das Diagramm in Abb. 16 vermittelt das Bild einer "Bevölkerungs-Pyramide" mit jeweils wenig jugendlichen und alten Individuen. Dieser Eindruck entsteht auch, wenn taxonomisch die Variationsbreite der Gehäusegröße von Spezies zwischen min. und max. der gefundenen Steinkerne angegeben wird, z.B. bei WENGER (1957) mit Größen für C. spinosus von 6,6 cm bis 20,5 cm. Das provoziert die berechtigte Frage nach der Existenz und dem Artstatus der Individuen die kleiner als 6,6 cm sind. Die Ursache für diese Interpretation liegt im Phänomen der fehlenden fossilen Überlieferung juveniler Ceratiten in Steinkern-Erhaltung und der darin basierenden Unkenntnis über Individuen dieser Ontogenie-Stadien.
Bereits beim flüchtigen Betrachten der Pflaster mit Mundwerkzeugen fällt ein übergroßer Anteil kleiner und kleinster Strukturen auf, der die Fragen zu den Jugendformen beantworten könnte. Die in der Regel noch paarweise liegenden kohligen Reste zeigen, dass es keine größeren Verfrachtungen gegeben haben kann und ihre Einbettung autochthon erfolgte. Da auch die Weichkörper mit den conchagenen? "Kiefern" aus verständlichen Gründen (Aasfresser, Verwesung usw.) nicht zu unterschiedlichen Zeiten abgelagert sein konnten, kommt ursächlich nur ein ökologisch verursachtes Momentereignis in Form eines Massensterbens in Frage. Derartige Events sind in einem Flachmeer nichts ungewöhnliches. Die Konzentration großer organischer Stoffmengen initiierte die Ausfällung einer Kalklage, die sich wie ein schützender Deckel darüber legte und zur Entstehung einer Konservat-Lagerstätte führte.
Mit dem gemeinsamen Sterbezeitpunkt und der autochthonen Einbettung kann die Individuenzahl angenähert der Populationsgröße zugeordnet werden. Bedeutsam dabei ist, dass neben den isolierten Mundwerkzeugen auch die Steinkerne der größeren Individuen erhalten sind. Den 40 Gehäusen adulter Ceratiten stehen somit weit mehr als 400 jugendliche Individuen gegenüber.


                     

Abb. 16: Die Gehäuse-Größen-Verteilung einer großen C. spinosus Population, mittl. spinosus -Zone Isseroda bei Weimar, vermittelt den Eindruck einer scheinbar idealen Glockenkurve. Real widerspiegelt sie jedoch nur den allgemeinen Trend der Steinkern-Erhaltung im Muschelkalk. Die Fragen nach der Existenz von Jugendstadien bleiben unbeantwortet. (Original REIN 2003 i. Druck)

Abb. 17a: Diagramm der C. spinosus Population von Kronach mit einem Beispiel des Mundwerkzeug-Pflasters ( "KCP", SMK Nr. 503).
Die blauen Säulen (Ceratiten in Steinkern-Erhaltung) entsprechen der bekannten Größen-Verteilung wie sie sich im Muschelkalk darstellt (s.a. Diagramm Abb. 16). Die roten Säulen verkörpern die mit dem Parameter-Wert 13% errechneten Gehäuse-Größen der Mundwerkzeuge. Somit wird erstmalig zumindest annähernd die reale Zusammensetzung einer Ceratiten-Population sichtbar. Die Anzahl juveniler Individuen dürfte sich noch verdoppeln, da die kleinsten Strukturen nur unvollständig überliefert sind.

Abb. 17b: Pflaster mit Mundwerkzeugen als Beleg für Massensterben. Teil der insgesamt mehr als 810 Einzelbelege isolierter Mundwerkzeuge umfassenden Aufsammlung. In der Regel wird die noch paarige Lagerung im ocker-gelblichen Mergel sichtbar. Ausschnitt s. Abb. 11, "KCP", Original REIN (2000), SMK Nr. 48, Größe 90 x 45 mm.

5. Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Seit der Publizierung der von LEHMANN (1988) als Ceratiten"kiefer" identifizierten Strukturen sind in-situ und isolierte Neufunde alltäglich geworden. Neue Belegstücke in körperlicher Erhaltung sind leider nicht darunter. Aussagen zu Morphologie und Funktion beziehen sich deshalb nur auf das Material von Kronach und Schleusingen. Da keine Rezentbezüge erkennbar sind bleiben alle diesbezüglichen Deutungen weitgehend spekulativ.

Morphologie: Mehrfach gesichert erscheint die paarige Lagerung identischer Strukturen. Ihr Bau ist, wie aus der Schema-Zeichnung Abb. 9a/b ersichtlich, leicht zu rekonstruieren. Diese Formen liegen in-situ stets nebeneinander, häufig gemeinsam auf einer Unterlage. Selbst in Mundwerkzeug-Pflastern wird die paarige Lage beibehalten. Neben diesen von LEHMANN als Kiefer gedeuteten Bildungen gibt es noch weitere unterschiedliche Strukturen. Sie scheinen jedoch instabiler zu sein, da sie seltener erhalten sind.

Funktion: Die Möglichkeit, dass die paarig identischen Bildungen der Ceratiten wie Kiefer gegeneinander arbeiten konnten, dürfte auszuschließen sein. Eine Deutung der Funktion der unterschiedlichsten Strukturen und ihr komplexes Zusammenwirken bleibt mit dem zur Verfügung stehenden Material weiterhin völlig rätselhaft und deshalb nicht nachvollziehbar. Begriffe wie Kiefer, Kieferapparat und Kauapparat vermitteln fälschlich die Vorstellung einer beißenden Handhabung der Gebilde gegeneinander. Sie sollten deshalb bis zur Klärung der Problematik durch den neutralen Begriff "Mundwerkzeug" für alle Strukturformen ersetzt werden.

"Mundwerkzeug"-Pflaster: Pflaster aus Ceratiten-"Mundwerkzeugen" belegen gelegentliches Massensterben. Derartige Events können lokal begrenzt, aber auch in bestimmten Bereichen wie der Spiriferina-Bank oder Gänheim-Bank weiträumig ökologisch verursacht sein. Aufgrund ihrer zeitgleichen (plötzlichen) gemeinsamen Einbettung und Konservierung ermöglichen sie objektive Rückschlüsse über Größe und altersmäßige Zusammensetzung von Populationen (Abb. 17a).
Für die vergleichende statistische Auswertung stand zusätzliches Belegmaterial von 11 weiteren Konservatlagerstätten zur Verfügung. Aus den Diagrammen (Abb. 17a-19) ist stets die gleiche Tendenz ersichtlich. Die Aussagen zu den Schlussfolgerungen sind damit allgemeingültig:
Für Ceratiten der evolutus- und spinosus-Zone ergibt sich bis zu einer Gehäuse-Größe zwischen 40 und 60 mm bei einem Größen-Zuwachs von 1 cm jeweils eine Halbierung der Individuenzahl. Danach stabilisiert sich der Wert allmählich und nähert sich der natürlichen Mortalitätsrate. Dieses Verhalten spiegelt die Verluste durch Fressfeinde wider und verdeutlicht die große Rolle der Ceratiten in der Nahrungskette des Ökosystems Muschelkalkmeer. Die auffällig hohe Verlustrate der Ontogenie-Stufen bis 60 mm zeigt eine besondere Gefährdung dieser Altersgruppe. Offensichtlich verringert sich mit zunehmender Gehäusegröße Art und Zahl der Fressfeinde. Wie der Koprolith (Abb. 20) zeigt, zählten auch 15 cm große Ceratiten noch zu den Beutetieren und selbst postmortal waren die Weichkörper-Reste eine begehrte Nahrungsquelle (Abb. 21).
Das stets gleichbleibende Verhältnis der Alterstufen-Verteilung in den "Mundwerkzeug"-Pflastern belegt eine herdenähnliche Lebensweise der Ceratiten in einer Generationen-Gemeinschaft. Für Invertebraten ist ein derartiges Zusammenleben einmalig und setzt ein gewisses soziales Verhalten voraus. Ihre sehr große Regenerationsrate deutet auf "r" -Strategie.
Frei in Großgewässern bewegliche Tiere liegen selbst nach einem Massensterben und anschließender Zusammenschwemmung nicht "altersklassensortiert" im gleichen Lager. Das immer konstante Verhältnis der Verteilung der Alterstufen in den Pflastern belegt somit auch ein enges Zusammenleben bei vagil-benthischer Lebensweise. Die Ceratiten lebten in großen Populationen am Meeresboden. Sowohl der Bau der Mundwerkzeuge als auch die ungewöhnlichen Populations-Größen lassen keinesfalls eine carnivore Ernährung zu. Denkbar ist vielmehr die Aufnahme einer niedrig-energetischen Nahrung aus dem Sediment der Weichböden und daraus resultierend eine geringe Mobilität der Ceratiten.
Die neuen Kenntnisse über Populations-Größe und Populations-Zusammensetzung der germanischen Ceratiten ermöglichen zukünftig weitere innovative Denkansätze und Rückschlüsse für evolutionsbiologische Analysen.


            

Abb. 18: Statistische Darstellung der Größenverteilung des Teiles einer C. spinosus Population mit >1000 Mundwerkzeugen von einer einzigen Platte. Die Struktur der Altersklassen entspricht exakt der Kronacher Populations-Zusammensetzung. Spinosus -Zone Gundelsheim, ca. 30 cm unter Tonhorizont beta. Slg. Philipps, Ce 01/150.

Abb. 19: Im Diagramm werden von 9 verschiedenen Lokalitäten aus Baden-Württemberg, Hessen und Thüringen kleine und kleinste Reste von Pflastern mit insgesamt ca. 580 Mundwerkzeugen zusammengefasst dargestellt. Davon sind 7 aus der spinosus-Zone und je eins aus der robustus- und der evolutus-Zone.
Stellvertretend für alle das kleine Teilstück eines Pflasters mit Mundwerkzeugen als Beleg für ein Massensterben. Künzelsau Garnberg, spinosus -Zone, Ausschnitt s. Abb. 12, Größe 85 x 41 mm, MHI ohne Nr. Trotz Diversität der Fundorte entspricht die Altersklassen-Zusammensetzung wiederum dem Kronacher Beispiel.


            

Abb. 20: Koprolith mit paarigen Mundwerkzeugen eines Ceratiten. Die 19 mm großen Strukturen entsprechen einer Gehäusegröße von 145 mm. Die offensichtliche Resistenz der Strukturen gegenüber Säuren des Verdauungstraktes deutet auf chitinöse Substanzen. Größe 98 mm, Liegendes der Gänheim-Bank von Haßmersheim. Slg. Philipps, Ce 02/152.

Abb. 21: Wie bereits von postmortalen Weichkörperresten in Ceratitengehäusen bekannt (REIN 1999) betätigten sich Schlangensterne auch nach Massensterbe-Events als Aasfresser verendeter Ceratiten. Ausschnitt einer mehrere Quadratmeter großen Platte mit unzähligen Mundwerkzeugen und >1000 Aspidura. Spiriferina-Bank +12 cm, Gundelsheim, Größe 40 x 40 mm, Slg. Philipps Ce 252.

Danksagung

Die Arbeit basiert auf der Auswertung des Kronacher Sammlungs-Materials der Herren Dr. Friedrich Martin (†) und Hans Martin. Weiteres Belegmaterial stellten mir die Herren Dr. h.c. Hans Hagdorn (MHI Ingelfingen), Ingolf Heinze (Königsee), Stefan Philipps (Oedheim), Ulrich Vath (Gleichen-Reinhausen), Stefan Weiland (Jena) und Dr. Ralf Werneburg (NHM Schleusingen) zur Verfügung. Herr Alfred Bartholomä (Neuenstein) gab wichtige Anregungen zur vorliegenden Arbeit. Die Herren Falko Behr und Sebastian Brandt (beide Erfurt) unterstützten mich bei der Illustration mit Fotos und Zeichnungen sowie Herr Klaus Ebel (Markdorf) mit der englischen Fassung der Summary.
Allen Genannten sei an dieser Stelle besonders herzlich gedankt.

Literatur

COMPTER, G. (1922): Aus der Urzeit der Gegend von Apolda und aus der Vorgeschichte der Stadt.- Verlag von Max Weg, Leipzig.
LEHMANN, U. (1988): On the Dietary Habits and Locomotion of Fossil Cephalopods.- in WIEDMANN, J. & KULLMANN, J. (eds.): Cephalopods - Present and Past; 633-640, 5 Abb., Stuttgart (Schweizerbarth).
REIN, S. (1993): Eine Platte mit Kauapparaten der germanischen Ceratiten.- Veröff. Naturhist. Mus. Schleusingen, 7/8, 3-8, 7 Abb., Schleusingen.
REIN, S. (1994): Die Kieferapparate der germanischen Ceratiten.- Fossilien; 11, 3/94: 167-171, 7 Abb., Korb.
REIN, S. (1999): Ophiuren als Aasfresser in Ceratitengehäusen.- Veröff. Naturkundemuseum Erfurt, 18: 65-69, 7 Abb., Erfurt.
REIN, S. (2000): Zur Lebensweise von Ceratites und Germanonautilus im Muschelkalkmeer.- Veröff. Naturhist. Mus. Schleusingen, 15: 25-40, 16 Abb., Schleusingen.
REIN, S. (2001): Neue Erkenntnisse zur Evolutionsbiologie der germanischen Ceratiten.- Ontogenese, Phylogenese und Dimorphismusverhalten.- Freiberger Forschungshefte C492, 9: 99 - 120, 5 Abb., 4 Taf., Freiberg.
REIN, S. & OCKERT, W. (1999): Die enodis-/posseckeri -Zone im Oberen Muschelkalk Thüringens - Ausbildung und Fossilführung.- Veröff. Naturkundemuseum Erfurt, 19: 43-67, 16 Abb., 2 Prof., Erfurt.
WENGER, R. (1957): Die germanischen Ceratiten.- Palaeontographica, A, 108, 57-129, Taf. 8-20, 44 Abb., Stuttgart.